JÜRGEN - FREIGEIST

Jürgen, eine Version des Namens Georg, benannt nach seinem Großvater. Mein Freund nennt meinen Bruder Giorgio. Wenn er es zulässt, rufe ich ihn immer noch mit dem Spitznamen, den ich ihm als 10 Jahre jüngere Schwester verpasst habe, als wir noch im selben Haus wohnten. Er ist einer der wenigen Menschen, die sich sofort bereit erklären, mit mir für mein Projekt zu sprechen. Im Haus unserer Eltern unterhalten wir uns ausnahmsweise über ernste Themen, denn mein Bruder ist im Regelfall eher zum Scherzen aufgelegt. Ich merke, dass es ihm schwerfällt, konkrete Antworten zu geben, und lerne, dass es nicht für jeden gleich einfach ist, von sich zu erzählen. 

Nichtsdestotrotz erfahre ich im Lauf unseres Interviews einige Dinge über Jürgen, die ich zuvor nicht wusste. Für mich lag genau darin der Reiz dieses Gesprächs: ich wollte die Sichtweise von einem mir nahestehenden Menschen auf Dinge erfahren, die ich teilweise mit ihm zusammen erlebt habe. Während er erzählt, werde ich nostalgisch. Mein Bruder spricht über eine Zeit, die 20, 30 Jahre vergangen ist. Er erzählt von einer glücklichen und emotional reichen Kindheit, von einer Großfamilie, zwei Häusern, die durch Gärten und einen Innenhof verbunden waren und sich wie eines anfühlten. Vor allem spricht er über Harmonie und über Geborgenheit, über Liebe in jeder möglichen Form. Geruchstechnisch erinnert ihn der Duft nach frisch gekochtem Essen an zuhause, das faszinierenderweise immer gut schmeckte. Gemeinsam haben wir auch die Erinnerung an den Kachelofen, den wir bis heute beide heiß lieben und deren wohliger Kamingeruch für die Winterzeit daheim prägend war und ist. 

„Wir waren als Kinder Könige und konnten uns frei bewegen“, sagt mein Bruder, und ich habe im Kopf den Asphalt vor mir, auf dem ich Roller gefahren bin, Straßenkreide gemalt habe und mir die Knie aufschürfte. Ich denke an den Apfelbaum, der heute nicht mehr steht, auf dem mir meine Brüder Klettern gelernt haben, an meine Oma, die in der Sonne sitzt und strickt und an die Pflanzen meines Opas. Die beiden leben heute nicht mehr und auch unsere immer laute Familie hält sich nur noch selten zusammen in Traun auf. Jürgen und sein Zwillingsbruder Stefan sind ausgezogen, ich pendle zwischen Salzburg, Innsbruck und Oberösterreich hin und her. 

Mein Bruder liebte die Schulzeit nicht, er kämpfte sich durch einige Jahre harte Ausbildung in einem kleinen Dorf des Salzkammerguts und ist heute stolz, auf Umwegen einen Beruf gefunden zu haben, der ihm Freude bereitet. Vor allem ist er glücklich, sich in seinem Job bewegen zu können, mit Menschen zu tun zu haben und nicht vor einem Computerbildschirm zu sitzen. Jürgen liebt Sport und verkauft mit dementsprechender Leidenschaft Equipment für alle, die Radfahren, Skitouren, Wandern oder Klettern gehen wollen. In seiner Freizeit ist er am liebsten draußen oder in der Boulderhalle unterwegs. Auf meine Frage, ob er sich in einem Konzertsaal auch so wohl fühlen könnte wie ich, antwortet er mit einem Vergleich aus dem Tierreich: Während ein Windhund immer laufen müsse, entspannt sich ein Chihuahua lieber in der Sonne. Jürgen argumentiert somit, dass wir als Menschen immer unsere Prägung haben und diese auch leben sollten. 

Mein Bruder teilt seine Leidenschaften dabei gerne mit anderen Menschen und berichtet von seiner Besteigung des Großglockners letzten Sommer. Spontan entschloss sich Jürgen dazu, den höchsten Berg Österreichs zu besteigen, wofür er mitten in der Nacht losging. Er ist überzeugt: Jeder von uns kann dieses Ziel in Etappen erreichen, laut seiner Einschätzung brauchen wir maximal vier Tage dafür und können dann auch alle am höchsten Punkt unseres Landes stehen. 

Beim Klettern und in der Natur ist für meinen Bruder der Weg das Ziel, unterwegs stellen sich Kraft und Ruhe ein, nicht nur die Ankunft am höchsten Punkt zählt. Die schönsten Orte auf der Welt sind für Jürgen Gebirgsketten, auf denen er Elemente wie Wind, Erde und Wasser intensiv wahrnimmt. Er verstärkt seine Aussage: „Der Mensch kommt aus der Natur, er gehört dorthin und will auch dorthin.“ Oben am Gipfel schließlich ist für Jürgen Freiheit, er hört dort nur den Wind und sucht bei seinen Touren auch Ruhe und Einsamkeit. Sport ist bei meinem Bruder kein Wettbewerb, sondern ein Ventil zum Entspannen. Wenn er an das Wort Sicherheit denkt, erscheint in seinem Kopf ein Kletterseil und seine Familie, die ihn immer auffängt. 

Die Welt versteht Jürgen als Kreislauf – er sagt, dass Menschen nach dem Tod als Tier oder Pflanze zurück auf die Erde kommen. Zudem strahlt laut meinem Bruder das Glück aus dem Menschen heraus und ist vergleichbar mit einem Kreis. Wir tragen Energie wird nach außen, nehme diese aber auch von anderen an. Dabei geht die positive Energie von einem zum anderen und von außen nach innen. Ein Gedanke, der uns alle begleiten sollte und auch als Warnung dienen – schließlich gilt diese Gleichung nicht nur für positive Energien, sondern auch für schlechte. Wir haben alle Einfluss aufeinander und müssen auf diesen achten. 

Schlussendlich möchte ich von ihm wissen, was das Leben mit einem Zwillingsbruder ausmacht, da ich der Meinung bin, dass man diese Erfahrung als Nicht-Zwilling nicht nachvollziehen kann. Meine Brüder hatten schon als kleine Kinder ihre eigene Sprache, in der sie kommunizierten. Jürgen bestätigt, dass sie noch heute eine andere Verbindung zueinander spüren als zu jedem anderen auf der Welt. 

Ich wünsche mir für meinen Bruder, dass er immer wieder seine Fröhlichkeit in der Natur finden möge und dass wir immer gemeinsam lachen können. Ich kenne niemanden, der mich so schnell und so intensiv in gute Laune versetzen kann wie er – nicht zuletzt deshalb, weil Jürgen sich selbst witzig findet auch gerne minutenlang über Kleinigkeiten lacht. 


 


Kommentare

Beliebte Posts